Nie wieder Versfüßchen

Von Iris Radisch | © DIE ZEIT, 24.05.2007 Nr. 22
Wie liest man eigentlich Gedichte? Die schönsten aus den vergangenen
25 Jahren – ein Lektürebericht.

Weil die Dichtung alle überfordert, weil sie schwer zu verstehen und schwer zu verkaufen ist, beginnen wir mit ein paar einfachen Fragen. Die Fragen stelle ich nicht der Dichtung schlechthin, sondern dem gerade erschienenen 25. Jahrbuch der Lyrik, in dem die schönsten Gedichte aus sämtlichen Jahrbüchern der Lyrik gesammelt sind, die Christoph Buchwald seit einem Vierteljahrhundert herausgibt. Diese Gedichte sind in einer Zeit entstanden, die den meisten Lesern gegenwärtig ist. Sie müssten also lesbar sein, ganz ohne Anmerkungsapparat, den ältere Dichtung oft erfordert. Die Gedichte der letzten 25 Jahre, das ist eine hoffentlich begründete Hoffnung, sind keine Sache für Experten. Sie verdichten im buchstäblichen Sinn des Wortes eine Zeit, an der wir alle Anteil haben. Die erste Frage lautet deshalb: Kann man die schönsten deutschen Gedichte aus den letzten 25 Jahren ohne jede Spezialausrüstung einfach lesen und verstehen?

Das erste schönste Gedicht aus dem Jahr 1979 – wir erinnern uns, die Mauer stand noch, Biermann war seit drei Jahren ausgebürgert, die Startbahn West noch nicht gebaut, Tschernobyl noch am Netz, der Kalte Krieg noch ziemlich kalt – heißt dichter, ist von Gerrit Bekker und beginnt so:

Ich bin das Kind
das aus dem Nest der Krähe stürzte –
wie Woge stürzte
ich
an einem Tag
mit schüchtern Arrr!
den Schnabel weitgerissen,
als ließe sich’s Verderben
beißen.
Ich bin der Vogel, schwarze –
damals aus dem Nest
und meine Flügel brachen nicht für immer.
Hier bin ich aufgestanden, an einer Mauerkante
bösen Buben auf das Bett
und auf die Hand zu sehn.
Bin zu verstehn. – (…)

Ist das überhaupt ein Gedicht? Oder nicht vielmehr eine Kurzerzählung mit Zeilenbruch? Eine Frage, die man der freien, ungebundenen und ungereimten Lyrik, die alle lyrischen Benimmregeln wie ein zu enges Hemd abgelegt hat, immer wieder stellt. Die Antwort ist in diesem Fall nicht sehr schwierig: Der Zeilenbruch mag schwach motiviert sein, aber ein Gedicht ist das hier bestimmt. Wie man sich da sicher sein kann? Ganz einfach, weil hier nichts »erzählt« wird, was man auch in Prosa erzählen könnte. Die Alchemie, der Bedeutungshof einzelner Signalwörter (Nest, Verderben, gebrochene Flügel, Mauerkante) und die lyrische Dynamik (stürzen, aufstehen, verstehen) bringen eine Spannung hervor, »verdichten« sich zu einem Eigensinn, der sich nicht einfach in Normalsprache übersetzen lässt.

Wenn das so ist, und das ist fast immer so, darf man sich allerdings fragen (2. und hässlichste Frage), ob man Gedichte überhaupt verstehen kann. Und das, im Vertrauen gesagt, ist nun auch schon das Hauptproblem, das viele Leser, aber auch wir hauptamtlichen Literaturdeuter mit der modernen und gegenwärtigen Lyrik haben: Sie lässt sich so ungeheuer schwer ins Verständliche »übersetzen«.

Die Probe darauf kann man in der ehrenwerten Frankfurter Anthologie machen, wo kluge Menschen sich darum bemühen, Gedichte zu interpretieren, was nicht selten heißt: nachzuerzählen, in wohlformulierter Rezensentenprosa nachzudichten, was man verstandenzu haben glaubt. Das hört sich etwa so an: »Dieses Lied kommt von weit her und istdennoch ganz nah.« Oder: »In den ersten beiden Strophen ruft sich das lyrische Ich liebevoll das Bild des Gestorbenen in Erinnerung.« Darauf folgen ein paar Daten zur Materialkunde: »Die erste und die dritte Strophe mit ihren sich kreuzenden Reimpaaren beginnen mit jeweils sechshebigen Jamben.« Martin Walser hat dieses Verfahren, mit dem man sich Gedichte durch Nacherzählungen und Versfußstatistiken vom Leibe hält, das »Heruntersetzen des Lese-Risikos« genannt.

Damit hat er sicher recht. Besonders bei zeitgenössischen Gedichten springen die Grenzen dieses allgemein üblichen Nacherzählens und Versfußsstatistiken ins Auge. Die zeitgenössische Dichtung hat uns ein Übersetzungsproblem aus dem Lyrischen ins allgemein Menschliche, von der Sonder- in die Mehrheitssprache beschert. Und dieses unlösbare Problem ist von sehr viel Fach- und Flachjargon immer wieder verdeckt worden. Die dritte Frage heißt deswegen: Bleibt uns dann nur die wortreiche Beschwörung des lyrischen Rätsels, des Unsagbaren, der Dunkelheit, des Geheimnisses des Gedichts? Bleibt uns nur das Singen, das Nachbeten, das Nachfühlen? Und nicht mehr das Verstehen, das Kritisieren, das Beurteilen? Die Antwort, klipp und klar: Nein! Das wäre viel zu ehrfürchtig und hilft nicht weiter, wenn man Gedichtzeilen wie diese: »…ich ging / Ohne Hosen herum zwischen den Männern / Mein Hintern war eine Fabrik / Die Lust produzierte. So kam / der Sozialismus vom Fleck« (Kurt Bartsch) einfach nur blöd finden möchte. Dichter sind auch nur Menschen.

Wenn das alles so schwierig ist, könnten wir (vierte und dümmste Frage) Gedichte nicht einfach unterteilen in solche, die man auch ohne Hilfe verstehen, und solche, die außer ein paar Dichterkollegen niemand je verstehen wird? Dafür spricht auf den ersten Blick eine Menge. Zum einen gibt es auch unter den angeblich schönsten Gedichten der letzten 25 Jahre sehr viele, die man auch ohne fachmännische Nachdichtung sofort versteht und mag, zum Beispiel ausnahmslos alle von Robert Gernhardt und nahezu alle von Peter Rühmkorf. Diese Gedichte sind in keiner lyrischen Parallelwelt angesiedelt. Sie strecken ihre Arme formschön verschlungen, aber doch unverkennbar in Richtung Hauptwelt aus. Das macht sie nicht von vornherein besser als die sogenannten hermetischen Gedichte. Im Gegenteil. Manchmal kann dieses Arme-Ausstrecken dem Leser auch die Luft abschnüren, kann das Gedicht im Dickicht der Allerwelts-Redeschleifen stecken bleiben wie in dem Gedicht bereden von Dirk von Petersdorff, in dem der Zeilenbruch zwischen »Bielefelder« und »Sülzwurst« schon zu den künstlerischen Höhepunkten gehört: »Der Verfassungspatriot ißt Knäckebrot, / oder auch Duisburger Allerlei, welches / er wechselweise mit Bielefelder / Sülzwurst einzunehmen pflegt, / seltener greift er zu Poppenbütteler / Flundern, die so angenehm am / Gaumen zergehn, zum Dessert wählt / er Frankfurter Wasserpfannkuchen«. Auch die sehr auf Verständlichkeit bedachten Dichter, die sich als Weltdeuter verstehen, sind nicht immer mit Gewinn zu lesen. Zwar wollen auch sie keine dichterische Nebenwelt schaffen, sondern der Hauptwelt einen höheren Sinn, eine tiefere Bedeutung unterlegen. Doch können sie in diesem schönen Bestreben, das Sinnlose zu versinnbildlichen, das Nackte nach der neuesten Mode zu bekleiden, ziemlich nerven. Die Weltdeutungsdichtung ist hier vertreten durch die September Elegien von Durs Grünbein, die die eingestürzten Twin Towers mit ausgeschlagenen Kinderzähnen und die Flugzeuge mit Erzengeln verbildlichen und 9/11 deutungshoheitlich schon wieder unter Kontrolle haben. Verständlichkeit ist nicht alles. Verständlichkeit kann auch furchtbar sein.

Wenden wir uns also den anderen, den auf den ersten, zweiten und auch noch dritten Blick scheinbar unverständlichen Gedichten zu. Diese erdabgewandten, sich ganz dem Wort, dem Klang, der Musik und allenfalls einem »gleitenden Sinn«, einer Stimmung, einem im Wind wehenden Metaphernfeld, einem Vokalgestöber überantwortenden Gedichte sind in diesem Band kaum noch vertreten. Als reichlich gefängnishaft anmutendes Sprachgitter bei Franz Mon: »gewitzt / wie der / widder / im / gips / hing / schließlich / isaak / friedlich / fixiert /zwischen / klimmzug und / strichcode«. Als verlockendes, kaum zu lösendes Silbenrätsel bei Peter Waterhouse: »DIE LEICHTE METAPHER DES EISENBAHNZUGS macht uns rollen. / Schon ist die lange Fahrt / länger als das Bild, das eigene überspringt das eigene / alles fällt unter die großen Zahlen. Ist jetzt die sofortige Ameise / sofortige Amsel? Die Antwort in der Ameisenform heißt: / Ameisenform. Die Antwort in der Vogelform heißt: Vogel.« In solchen Gedichten gilt eine Währung, mit der man sich in der Wirklichkeit beinahe nichts mehr kaufen kann. Was man je nach Geschmack entweder besonders subversiv oder besonders verstiegen finden kann. Sicher ist: Solche Gedichte sterben gerade aus. Die große Tradition der hermetischen Dichtung macht offenbar gerade wieder einmal Pause. Und noch sicherer ist: Das macht überhaupt nichts. Die allerneuesten Gedichte gehören zu keiner Schule. Und wenn nicht alles täuscht, hängt die Frage, ob uns ein Gedicht gefällt, auch gar nicht davon ab, ob wir es schwer oder leicht verstehen, ob es gegenständlich oder ungegenständlich, erdab- oder erdzugewandt ist. Wovon (fünfte, schwerste und letzte Frage) hängt es dann aber ab, ob uns ein Gedicht gefällt?

Hier beginnt nun doch das Geheimnis. Warum hat mich vor ein paar Jahren, an einem Sommertag auf einer italienischen Wiese sitzend und eine englische Zeitung lesend, plötzlich ein Gedicht, das in der Zeitung abgedruckt war, ergriffen wie noch keines zuvor? Nur ein paar Zeilen eines mir bis dahin noch unbekannten Dichters. Sie sind von dem englischen Dichter Philip Larkin und gehen so:

Behind the glass, under the cellophane,
Remains your final summer sweet
And meaningless, and not to come again.

Natürlich kann ich allerhand zusammenstammeln, um zu erklären, was mir an diesem Gedicht gefällt. Seine trockene Hitze und Dringlichkeit, seine cellophanpapierhafte Nüchternheit, seine existenzielle Radikalität, sein Einmal-und-nie-wieder-Pathos, sein tödlicher Schluss. Das alles und die trockene Hitze des italienischen Landsommers, in dem ich es las und der so gar nicht zu der englischen Zeitung passte, die Melancholie der südlichen Mittagsstunden und noch manch anderes, das hier nicht hergehört, haben zu diesem ungeheuren Erlebnis beigetragen. Ein Gedicht, das spürt man, wenn man an sein Lieblingsgedicht denkt, ist nie nur die Summe seiner Teile, sondern immer ein Organismus, der stirbt, wenn man ihn zerschneidet. Deswegen ist auch wahr, was oft behauptet wurde: Gedichte versteht man nur ganz, während man sie liest. Nicht davor und nicht danach. Das ist ähnlich wie mit der Musik. Gedichte sind keine Gegenstände, eher Zustände. Deswegen können wir sie auch schlecht zu uns herüberziehen in die Prosa unserer Verhältnisse. Wir müssen uns schon aufmachen, zu ihnen zu kommen. Nur so erfahren wir endlich einmal etwas vollkommen Neues.