Notizen zu einigen Gemälden Gerrit M. Bekkers

von Christian Rathke

„Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie“ (Heraklit)

Erstaunen, Befremden, leichtes Unbehagen erwecken die Bilder Gerrit Bekkers im unvorbereiteten Betrachter. Das Dunkel, aus dem unbestimmte Formen hervordämmern, mag ihn an die schwärzlichbraune Finsternis erinnern, die uns umgibt, sobald wir die Augen schließen, die fahl‑gelblichen Lichtbahnen und schattenhaften Umrisse scheinen annähernd den Nachbildern zu entsprechen, die das bei Licht Gesehene auf der Netzhaut als Negativ hinterläßt. Assoziationen stellen sich ein, die im Bereich schwerer Träume oder rauschhafter Wahrnehmung liegen mögen, das wache Bewußtsein wehrt sich instinktiv gegen die Unmöglichkeit, im Bildfeld eine fest umrissene Gestalt zu erkennen und zu benennen, eine räumliche Zuordnung zu leisten, eine Form auch nur ansatzweise klar zu bestimmen.

Wer jedoch bereit ist, dem Maler tiefer in seine optischen Welten zu folgen, dem erschließen sich neue, merkwürdig vertraute Einblicke, die vielleicht etwas längst vergessen Geglaubtes wieder hervorbringen oder mit einem Schlage ein Bild vor Augen stellen, nach dem man lange gesucht hat, ohne daß man seine Vorstellungskraft zu seiner Hervorbringung hätte veranlassen können. Es mögen Erinnerungen auftauchen an den faszinierten Blick des Kindes durch eines der kleinen Lüftungslöcher eines alten Radioapparates, in dessen Innerem sich eine scheinbar unsinnige, aber zugleich wichtig wirkende Welt von Glaskolben, gummiumhüllten Kabeln, Lötstellen, Schrauben, Nieten, Spindeln, Rädchen, durchlöcherten Pappen, Muttern, Kupferdrähten, Weißblechplättchen, Rollen und Bakalitknöpfen auftut, die vom magischen Licht kleiner Lämpchen und dem geheimnisvollen Glühen der Radioröhren erfüllt und mit einer Menge unverständlicher, aber hochbedeutender Ziffern und Buchstaben versehen ist. Ober dieser an sich schon phantastischen Szenerie, die durch den engen Durchblick,aus allen gewohnten Dimension gehoben wird, liegt eine dicke Schicht von grauem Staub, der die Anlage wie verrußter Schnee oder wie die Asche irgendeiner Vulkankatastrophe überzieht. Auch wenn das Kind, das vom eigentümlichen Zauber dieser technischen und zugleich in seiner scheinbaren Desorganisation natürlich ungeordnet wirkenden Vision gebannt ist, noch nicht über ein rationales Zeitgefühl verfügt, mag seine Phantasie die Vorstellung uralter, vom Staub der Jahrtausende beäeckter Schlösser und Städte ausspinnen und Analogien zu den verzauberten Regionen von Dornröschen oder Alice herstellen.

In dem Maße, in dem die Bilder Bekkers als Anlaß wirken können, über sie mit eigenen Erinnerungen und Innenbildern konfrontiert zu werden oder Darstellungen dessen zu entdecken, was man sich seit langem hat bildlich vorstellen wollen, ohne es zu vermögen, in diesem Maße schwindet das Empfinden von Befremden und Unbehagen. An dessen Stel ein Gefühl des freudigen Wiedererkennens treten, ähnlich jenes „deja‑vue“‑Erlebnis, das sich durch die Erke auszeichnet, eine Wiederbegegnung mit etwas zu sein, das man wissentlich noch nie angetroffen hat und auch ni antreffen können.

Im Dunkel des bläulich schimmernden Raumes mogen die weichen Formen eines transparenten Körpers an das Leben mikroskopisch kleiner Einzeller erinnern und zugleich die Vorstellung gigantischer Flugkörper aus unbeka Glasmaterial erwecken, die in ihrem Hangar für einen intergalaktischen Flug zugerüstet werden. Organoide FormE wie aus sich selbst heraus matt leuchtende Pilze wirken, treten in Verbindung mit harten und kantigen Formen, d Produkt einer technischen Intelligenz zu sein scheinen, die nicht an die Grenzen der menschlichen Rasse od bekannten Raum‑Zeit‑Relation gebunden ist.

Mancher Betrachter mag hier die zugleich phantastischen und bis zum Widers~nn logisch‑konsequenten Sze Stanislaw Lems suchen oder die dekadenten Tragödien von Clark Ashton Smith in diesen Bildräumen einsiedeln.

Die Bilder Gerrit Bekkers sind jedoch weit davon entfernt, illustrativ oder literarisch zu sein (so faszinierend und legiti Genre der Illustration von literarischen Visionen an sich ist: man denke an die lkonographie der Apokalypse oder Darstellungen der Hölle seit dem frühen Mittelalter). Es ist vielmehr eine literarische Prädisposition desjenigen, d Bilder betrachtet, durch die sich Analogien zu phantastischer Literatur ergeben können.

Andere Betrachter mögen stärker biologische oder physikalische Assoziationen haben. Manche könnten sich auch a unscharfe, fehlbelichtete Photographie oder das Bild eines falsch justierten Farbfernsehers erinnert fühlen, and Gemälde von Watteau oder Goya. Die ungewöhnliche Fähigkeit, in das Innere eines sensiblen Betrachters zu dringe dort eine individuelle Assoziation hervorzurufen, macht einen Teil der Kraft und des Reichtums der Bilder Bekkers

Seine Arbeiten sind vom abstrakten Expressionismus der 50er und 60er Jahre ebensoweit entfernt wie von den bis immer dünner werdenden Aufgüssen des Surrealismus, die das traurige Attribut modischer Beliebtheit tragen. W den farbkräftigen Flecken Sam Francis‘ oder den qualvollen Verschlingungen Schultzes eine ähnliche Brei~ Assoziationsmöglichkeiten wartet und wenn die Oberflächen und Farben Faurtiers oder Wols‘ in ihrer ästheti Vieldeutigkeit Vergleiche ermöglichen, so sind doch die Hervorbringungen des abstrakten Expressionismus dynamischen, oft hektischen Grundhaltung den Arbeiten Bekkers konträr. Anstelle der Nervosität der Kratzer und Pinselhiebe von Wols und der Fülle gestischer Aktionen bei Götz und Mathieu tritt bei Bekker eine ruhige und gesammelte Arbeit, bei der die Gestaltung stets gegenüber dem bildnerischen Zufall die Priorität hat, das Gewordene stets mit dem Gewollten übereinstimmt. Die hellen und dunklen.%Streifen in einem spontanen Pinselstrich werden beispielsweise mit spitzem Pinsel sorgfältig nachgearbeitet, damit sie ihre Funktion im harmonischen Gefüge des Bildes erfüllen, das bewußtzufällige Muster von Farbtröpfchen einer wässrigen Lösung auf einem fetthaltigen Untergrund wird mit Pinsel oder Feder so lange ergänzt, bis sich das notwendige, vom physikalischen Zufall nie vollständig geleistete Erscheinungsbild ergibt.

Der handwerklichen Solidität und ästhetischen Raffinesse Bekkers entspricht es, daß er von der altmeisterlichen Technik der selbst hergestellten Eitemperafarbe ausgeht, die mit Harzöllasuren überarbeitet wird. Der Grund ist nicht, wie bei so vielen Kleinmeistern der 60er und 70er Jahre, eine muffige Nostalgie, sondern die Erkenntnis, daß die fabrikmäßigen Ölfarben die Breite der Gestaltungsmöglichkeiten erheblich einschränken und das Streben nach ästhetischer Differenzierung im vornherein vereiteln.

In die genannte Mischtechnik hinein malt Bekker freilich mit allen anderen passenden Techniken, Pastell, Acryl, Leimfarben, Dispersionsfarben, Öl, Kohle, Bleistift etc. Manche Bilder sind aus 30 Schichten aufgebaut, ihre Entstehungszeit kann sich über Jahre konzentriertester Arbeit erstrecken. Einige der Gemälde Bekkers sind auf eine Schicht Blattgold gemalt, die formal die Bestimmung hat, für eine einzige, in die feuchte Farbe gewischte Kontur bereitzuliegen, dessen notwendige Position im Bild erst mit dem Malvorgang bestimmbar wird. Andere Gemälde werden bis zu einem hohen Grad durchgearbeitet und annähernd fertiggestellt, um dann aus einer spontan erkannten inneren Notwendigkeit heraus ganz oder bis auf geringe Reste übergrundiert und neu gemalt zu werden.
Das malerische Resultat erreicht einen außerordentlich hohen Standard an ästhetischer Differenzierung und verdiente es, mit der Diamantenlupe betrachtet zu werden (so wie es auch mit dieser Lupe gemalt wurde). Die außergewöhnliche malerische Qualität der Arbeiten Bekkers verleiht ihnen von vornherein einen überregionalen Rang, auch wenn oder gerade weil der Maler selbst bisher nichts von sich aus unternommen hat, um seine Bilder bekannt zu machen. Das Kabinettformat erlaubt eine eingehende, intime Beschäftigung mit dem Bild, die genausogut eine Auseinandersetzung wie ein Akt der Einfühlung sein kann. Dabei bildet der Genuß der ästhetischen, rein optischen Werte einen eigenen Wirkungsbereich, der jedoch der oberflächlichste ist.

Tiefer in den Bereich der menschlichen Erinnerungsfähigkeit und Imagination wirkt der Biidgegenstand, der über den Schein der innerbildlichen Harmonien und formalen Valeurs hinaus regelrecht etwas darstellt.

Man ist in einigen Fällen versucht, sogarvon einer Abbildung zu sprechen, freilich einerAbbildung von etwas, das vor dem Maler noch niemand gesehen hat. Es wurde oben versucht, einen geringen Teil der denkbaren Assoziationen und Reaktionen anzudeuten.

Dabei ist klar zu betonen, daß Bekkers Bilder noch entschieden weiter als vom abstrakten Expressionismus vom gängigen Neo‑Surrealismus entfernt sind,

Die Hekatomben von rissigen Welt‑Eiern, Wunderblumen, weichen Uhren, Mischwesen aus Mensch und Tier oder Mensch und Maschine, die Versatzstücke aus den Requisitenmagazinen der literaturbeflissenen Psychotherapeuten und psychotherapiebeflissenen Literaten, der ganze hohle Eklektizismus von Malern, die ihre schöpferische Impotenz mit tiefsinnigen Anleihen bei der lkonographie seit Altamira zu bemänteln suchen, alle diese unfruchtbaren Banalitäten haben mit den Werken Bekkers nichts gemein. Aus diesem Grunde erschließen sich die Arbeiten nicht ohne eine große innere Aufnahmebereitschaft des Betrachters, ganz im Gegensatz zu den erwähnten modischen Massenprodukten, die sich schlucken lassen wie Zuckerwatte und wie diese kaum verdaut werden müssen, folglich nicht nähren, sondern nur aufschwemmen.

Bekkers Bilder sind nicht so leicht zu verdauen. Um sich ihnen ansatzweise nähern zu können, müssen eine ganze Anzahl von Hilfestellungen, Verständnisbrücken, Hinweisen gegeben werden, die derjenige direkt vom Künstler erhält, der viel mit ihm zusammen ist, die aber dem Betrachter der Bilder in einer Ausstellung nur auf Umwegen vermittelt werden können. Die eigentliche, mühselige und ungemein fruchtbare Arbeit des Erkennens muß jedoch jeder einzelne im Umgang mit dem Original selbst leisten.

Gerrit Bekkers Mutter ist Griechin, er selbst ist zweisprachig aufgewachsen und lebte einen großen Teil seiner Jugend in Griechenland. Eine frühe, intensive Begegnung mit der bildenden Kunst hatte er im Hause eines russischen Emigranten bei Athen, der lkonen malte und dem jungen Gerrit sein Wissen um die orthodoxe religiöse Malerei vermittelte, die sich von der westlichen religiösen Kunst wesentlich unterscheidet. Wenn beispielsweise ein Heiligenbild von Raff ael oder Giotto nur die Abbildung oder das Vorstellungsbild des Dargestellten ist, so ist das orthodoxe Bild der Russen und Griechen der Heilige selbst oder doch ein Teil seiner Ausstrahlung. Eine lkone ist eine eigenständige Wesenheit, die wie eine Person angesprochen werden kann, von der der Gläubige Taten erwartet und die er wie ein lebendiges Wesen pflegt. Die lkone stellt nicht etwas dar, sie ist es.

Analog zu dieser aus religiösen und magischen Wurzeln stammenden Auffassung vom Bild sind auch Bekkers Gemälde nicht ein scheinhaftes Abbild, sondern sie selbst. Sie entfalten ein individuelles Leben. Sie können für den Maler eine zuvor unbewußte und unbeabsichtigte Bedeutung gewinnen, die sich in manchen Fällen erst nach Jahren erfüllt. Sie können eine geheime, stille Botschaft enthalten, die sich einem ganz bestimmten Betrachter zu einem ganz bestimmten Augenblick erschließt, während andere gleichgültig bleiben müssen. Sie können in konsequenter Weise dann auch im Laufe der Zeit Kratzer, Beschädigungen, im weitesten Sinne Wunden erleiden, die nicht mehr retuschiert werden, „weil sie vielleicht für das Bild bestimmt waren“, wie es der Maler formulieren würde. Einer in den 70er Jahren im Bereich der Kunstkritik beliebten Formulierung nach hätte ein Gemälde von Gerrit Bekker „Objektcharakter“. Genauer wäre die Bezeichnung: „den Charakter eines Subjekts“. Daher sind auch oft die Rückseiten der Bilder bezeichnet, bemalt oder collagiert (man ist versucht zu sagen, einige Rückseiten von Bildern Bekkers haben mehr Gehalt und Kraft als manche Biidvorderseite anderer Künstler).

In die Malerei eingesetzte Schrift, Zeichen und Ziffern auf den Bildern konstituieren neben ihrer ästhetischen Funktion ein vorwissenschaftliches Weltverständnis, wie es die westliche Astrologie und die Alchemie bestimmte und wie es in den Biidwerken des Islam und des Fernen Osten vorherrscht.

Der Glaube an die beseelende Kraft des Wortes bei den Juden liegt nicht fern. Eine feste Kategoriengrenze zwischen Dichtung und Malerei kennt Bekker ohnehin nicht. So kann es vorkommen, daß auf einem Bild ein Gedicht erscheint oder ein Bild und ein Text mit dem gleichen Thema entstehen.

Auch hier muß wieder festgestellt werden, daß Bekkers Bilder nicht etwa die eigenen Gedichte illustrieren oder die Gedichte gesprochene, ungemalte Bilder sind, so bildhaft seine Sprache auch ist und so Jesbar“ seine Bilder sind.

Der Vorgang liegt tiefer und ist zugleich einfacher:
Seine Bilder sind für Gerrit Bekker Lösungen oder Lösungsversuche für Fragen, die aus seinem Weltverständnis erwachsen. Diese Fragen, Probleme oder Geheimnisse sind nicht simpel formuliert wie etwa „Woher kommen wir, wohin gehen wir“ oder“Was ist Wirklichkeit“? Und dennoch schwingt in jeder Bild‑Lösung ein Teil einer persönlich gefundenen Antwort auf die existenziellen Fragen mit. Es sind gemalte Antworten, die in einem bisher unbekannten Zwischenbereich zwischen Philosophie, Religion und Bildender Kunst liegen und die klassischen Grenzen der Philosophischen Disziplinen fruchtbar verwischen: Aesthetik wird Physik, Physik wird Metaphysik und wieder Aesthetik.

Gerrit Bekker hat eine starke, unverstellte Beziehung zu philosofischen Fragen, die ihre Ausprägung nicht im rationalen Zergliedern, sondern im optischen und begrifflichen Gestalten und Verdichten findet. Viele seiner Werke wirken wie eine bildliche Parallele zum Höhlengleichnis Platos, auf manches seiner Gemälde würde kein Kommentar so zutreffen wie ein Satz von Heraklit. Hier mag sich die Herkunft aus Griechenland auswirken.

Dem Licht in seinen Bildern kommt eine zentrale Rolle zu, einmal, weil alle Dinge erst durch das Licht sichtbar werden und ihre Farbe erhalten. Darüber hinaus ist die Erscheinungsform des Lichtes bei Bekker körperlich, vergleichbar einem sehr hellen Feuer. Der Lichtkörper leuchtet aus sich selbst heraus, er ist auf manchen Bildern Bekkers der Hauptgegenstand der Darstellung. Parallelen zu Heraklits vernunftbegabtem Feuer, das in seiner Lehre die Grundkraft der Welt ist, sind unschwer zu finden, aber auch Analogien zur christlichen Lehre des göttlichen Lichtes liegen nicht fern, das den Geist erleuchtet, so wie das irdische Licht die Welt erkennbar werden läßt. Auch der Buddhismus faßt das Göttliche in das Symbol des Lichtes. Doch sind solche Parallelen nicht in dem Sinne zu deuten, daß der Maler etwa die Theorie Heraklits bildlich erläutern oder den christlichen Begriff des Lichtes in ein Gemälde umsetzen wollte, es scheint vielmehr eher der Betrachter zu sein, der in den Bildern Spuren dessen wiederfindet, was er selbst einmal gedacht und aus philosophischen und religiösen Texten gefolgert hat.

Gerrit Bekker geht von derAnschauung und dem optischen Gestalten aus und konstituiert auf derTafel oder Leinwand ein Bild, das der Imagination und der Konsequenz der ästhetischen Harmonie folgt. Das Resultat ist nicht selten für den Betrachter wie für den Maler selbst zugleich ein Geheimnis und die Lösung eines Rätsels, ohne daß das eine oder das andere näher mit Worten beschrieben werden könnte. Das erarbeitete Bild wirkt wie das stille Angebot einer wichtigen Nachricht, die sich in ihrer Bescheidenheit wohltuend von vielen Kunstwerken unterscheidet, die dem Betrachter ihre „Botschaft“ (message) gleichsam aufdrängen oder sie pathetisch vortragen.

Sokrates hat einmal zu den dunklen Lehren Heraklits den folgenden Kommentar gegeben: „Was ich verstanden habe, ist vortrefflich ‑, ich bin überzeugt, auch das, was ich nicht verstanden habe. Aber es bedarf eines delischen Tauchers.“