Die Zärtlichkeit des Handarbeiters

von Arnulf Conradi
Zu Gerrit Bekkers erster Erzählung
„Petersens Meerfahrt“

die horen
Band 4 Winter 1982 27. Jahrgang Ausgabe 128
S. 93-94

* Arnulf Conradi ist Lektor im claassen Verlag, Düsseldorf, hat dort die Gedichte und jetzt eine Erzählung von Gerrit Bekker betreut und kann und will daher mit diesem Aufsatz keinesfalls Anspruch auf Objektivität erheben. Wachsflügels Furcht wurde für Juni 1982 von der Darmstädter Jury zum ..Buch des Monats“ gewählt.

Als Binnenländler wird man schon auf den ersten Seiten stutzen. Wenn der Marlspieker wahllos ins Kielschwein sticht, „wird ein Schiff wohl etwas zu beweisen haben. Und bei borstigem Besan und durchgebranntem Schanzkleid“ droht gurgelnd der Meeresgrund. Wenn sich die Leser moderner Literatur in der Regel gemäß der Bereitschaft sortieren lassen, stilistisches Raffinement zu goutieren und intellektuelle Ansprüche zu erfüllen – Hierarchien belletristischer Kompetenz -, so werden sich im Falle von Gerrit Bekkers Erzählung „Petersens Meerfahrt“ die Leser zunächst einmal an ganz anderen Grenzen trennen; Grenzen, markiert mit geographischen, handwerklichen, nautischen Pfählen, fest eingerammt in bodenständigem Jargon.

Der Horizont praktischer Erfahrung, vor dem Broder Petersen mit einer Handvoll Typen seine Träume in einem sehr konkreten Sinn real werden läßt, ist durchaus regional und milieuspezifisch. Doch die erzählte Geschichte aus der Provinz mitnichten provinziell. Davon zeugt kein souverän weltmännischer Erzähler, der sich auf die regenverhangene Küste der Kieler Bucht besonnen hat, um den deutschen Landen Natur und Abenteuer, der deutschen Prosa lebensnahe Exotik abzugewinnen; dafür sorgt vielmehr die distanzlose Verschränkung von Erzählerinteresse und – ganz schlicht – der vergebliche Versuch Broders, endlich mit einem eigenen Boot einige zehn Kilometer von der Küste wegzukommen.

Mit Rollo, Ove und Günni, seines Zeichens Maler (und der Erzähler der Ereignisse) und nicht ohne Ungeschick in schiffstechnischen Dingen, kämpft Broder, eine archaische Mischung aus Tumbheit, liebenswürdiger Unschuld und Begeisterung, dafür, sein Holz-, später – bedeutsame Steigerung – sein Eisenboot gegen elementare Widrigkeiten zu ehaupten. Spätestens nach der fünften Seite wird man, dem Maler gleich, seine alten Vorhaben vergessen haben, um das Schiff endlich über dem Wasserspiegel zu halten.

Ohne psychologische Lockmittel, mit einer zugleich handfesten und liebevollen Hinwendung zu den nächsten Gegenständen, ihrem Funktionieren und einer lakonisch genauen Auffassung der Ereignisse bringt Bekker die Erfahrung auf den Punkt. So wie man etwa beim konzentrierten Einschlagen eines Nagels das stählerne Blau des Kopfes als dingliche Botschaft noch einmal im Auge fühlt, bevor sie im Zweck untergeht: „Er muß sich vollsaugen“, sagte er. „Er lag zu lange trocken, und nun ist er undicht. Das hast du bei einem Holzboot immer. Wenn er’n bißchen im Wasser liegt, quillt das Holz und zieht die Abstände dicht. Wo er noch Wasser nimmt, wird nachkalfatert. Zack.“

Das Buch ist angefüllt mit Wanten und Planken, mit Schrauben und Muttern, aber auch mit Salzwasser, feuchten Brisen und Bier und mit einer körperlichen Lust, daraus ein funktionierendes Ganzes hinzubiegen. Was fehlt- man ahnt es – die Frauen. Sie haben, etwas zu böse gesagt, in dem Buch so wenig zu suchen (oder verloren), wie in einer Eisenwarenhandlung oder auf dem Nürburgring. Zu böse deshalb, weil die Männer (nicht „die Jungs“, keine bündische Kumpanei) ganz ohne Pathos und Opfer sich gern haben können.

Kein Dialogisieren, kein Forschen im-anderen, eher ein Offen- und StilIhalten vor dem wie immer marottenhaften Genius des Freundes. Als ob der Text seine homophile Koloratur eigens in einer Person verdichten und karikieren wollte, geht der Schiffseigner Schönbeck mit auf Fahrt und versucht aus den losen Bootfreaks eine Mannschaft zu machen – „Leinen Los, Männer“, bis er, Meister unter Männern, auf dem Höhepunkt seiner Euphorie satt im Rum-Rausch untergeht und sanft zur Ehefrau zurückgeleitet wird.

Auch er teilt das Ideal instinktsicheren Umgangs mit Technik und Natur auf dem Niveau ihrer vorindustriellen Beherrschung. Das Boot als erweiterter Menschenkörper, in Gefahr vonblitzschnellen Reflexen regiert. Außer ihm bleiben die Personen über praktische Absicht hinaus durchweg wortkarg. Ohne Erklärungen, ohne Ornament scheinen sie sich in ihrem schlichten So-sein selbst zu kommentieren. Das gilt auch für den Erzähler. Es ist eine fast unmerkliche“ Verinnigung im Gegenstand“, die diese Prosa im Übergang von schierer Anschaulichkeit zur Bildhaftigkeit hält (der Erzähler sowohl wie sein Autor sind Maler).

Die Spannung zwischen artifiziellster Lautlichkeit und dinglicher Präsenz, wie sie Gerrit Bekkers ersten Gedichtband „Wachsflügeis Furcht“ bestimmt, ist in der Erzählung gemildert zu einer erfahrungsgesättigten, dennoch eigensinnigen (adjektivscheuen) Realistik. Deren Überschüsse gehen in leichten unaufdringlichen Verschiebungen der Perspektive ins Ereignis selbst mit ein oder zeigen sich kurz und evokativ in einer offenen Wendung an. Ein seltener Fall in deutscher Prosa, eher angelsächsisch; Erzähler wie Faulkner und Hemingway fallen einem ein.

„Wirft es zwischen junge Gierforellen, Wirbel ums Brot, und verfangen sich an Flosse und Kiemen, einige schnappen das Eisen, und seine alte Frau keift nur noch, und er sagt, das Blut steige nicht mehr weit genug in ihren Kopf, und sie wisse kaum, was sei. Und er sagt Tja, und die das Meer nicht kennen, fürchten es nicht, und daß er am Abend ans Schilf will, den Hecht zu stellen, nach dem er schon zwei Jahre auswirft, auch mit dem Extrakt aus Reiherbein als Köder, und er sagt, der Hecht wird auflaufen.“

Etwas eingeklemmt zwischen die Robinsonaden im Küstengewässer steht da ein zweites Kapitel, in dem Gunter (Günni), der Maler mit Gerrit, dem Erzähler/Autor und umgekehrt in Konkurrenz um Farben und Motive tritt. Das intensive Bemühen um „die primären Qualitäten der Dinge“ (Locke) läßt den Maler in der Handarbeit den autodidaktischen Schiffsingenieur treffen. Ansonsten steht das abgeschlossene Atelier zu luftdicht im offenen Küstengelände mit seinen salzig feuchten Brisen.

Geradezu trutzig gegen urbane Fremdheitserfahrung, trutzig auch gegen die längst vollzogene technische Kolonialisierung des küstenländischen Lebensraumes behauptet sich Broders donquichottischer Durchsetzungswille. Ohne entscheidende Eingriffe in den Text könnte „Petersens Meerfahrt“ auch im Jahre 1882 stattfinden, oder besser gesagt, nicht stattfinden, denn daß Broder Petersen nicht Meer gewinnt, gibt seinem Wunsch wie dem Text den melancholischen Hauch Vergeblichkeit, wenn auch etwas steif und hanseatisch unterkühlt. Hartnäckig ragt Gerrit Bekkers Erzählung in die gegenwärtige Literaturlandschaft – wie Broders Bootsabenteuer in die moderne Küstenschiffahrt.

Eine wohlplazierte Lakonik des Jargons scheint den humoristischen Unterbau des Erzählens auszumachen. Es ist aber eigentlich das Gespür für das Vergebliche des eigenen Unterfangens – beim Text und bei seinem Personal-, was letztlich diesen Humor versorgt, was für ihn sorgt: „Das Wasser war unklar. Angler am Ufer, die wohl schwören würden, daß das, was da drin schwamm, Fische waren, aber wenn man in so ein Ding reinbiß, schmeckte es, als hätte man seine Hände gut in Dieselöl getaucht. Die hier schon so lange angelten, kriegten es nicht mehr mit.“ Gerrit Bekker schmeckt Dieselöl und angelt doch.

Hubert Winkels

Gerrit Bekker: Petersens Meerfahrt. Erzählung,
claassen Verlag, Düsseldorf 1982, 128 S.