Von der Furcht vor dem Verlust der Naivität

von Arnulf Conradi
Über die Gedichte von Gerrit Bekker *

die horen
Band2 Sommer 1982 27. Jahrgang Ausgabe 126
S. 109-117

* Arnulf Conradi ist Lektor im claassen Verlag, Düsseldorf, hat dort die Gedichte und jetzt eine Erzählung von Gerrit Bekker betreut und kann und will daher mit diesem Aufsatz keinesfalls Anspruch auf Objektivität erheben. Wachsflügels Furcht wurde für Juni 1982 von der Darmstädter Jury zum ..Buch des Monats“ gewählt.

Als ich Gerrit Bekkers Arbeiten, die jetzt in dem Band Wachsflügeis Furcht veröffentlicht worden sind, zum erstenmallas, fiel mir auf, daß er in freien Rhythmen schreibt und zuweilen auf den Reim zurückgreift:

Sag, liebstes Kind aus Gelberlind ists
weit noch,
daß der Herbst die Blätter bräunend fällt?
mein Glück –
ist nicht von dieser Welt
und auch von keiner andern

Oder:

Ergebe mich der See
nur leise hin,
so leise wie im Schlafe bin,
so leis.

In den Gedichten steckt, so scheint mir, ein Kunstwille im Umgang mit Reim und Rhythmus, der sich stark abhebt von jener Art moderner Lyrik, die sich dem Risiko der Gestaltung gar nicht erst aussetzt. Das ist zunächst mal nur eine persönliche Aussage und eine sehr subjektive Wertung. Aber moderne Lyrik ist eine Kunstform radialer Subjektivität, und ich finde es sehr schwierig, sich ihr anders als subjektiv – Identität von Gegenstand und Methode – zu nähern. Ich hatte mal einen Kollegen, der da ganz anderer Meinung war und eine Zeitlang plante, eine Ästhetik der modernen Lyrik zu schreiben. Soviel ich weiß, hat er das inzwischen aufgegeben. Es gibt praktisch keine verbindlichen Grundsätze der Form, keine Kriterien und wenig Maßstäbe. Und die Kritik von Lyrik ist denn auch in der Regel wohltuend subjektiv geworden. Die Rezensenten sagen nicht mehr: das ist gut, das ist virtuos, sondern sie sagen: das gefällt mir, und gehen dann daran, Schritt für Schritt zu erklären, warum es ihnen gefällt.

Trotzdem – wenn man einen Lyriker wie Bekker, der Rhythmus und Reim so bewußt in seine Arbeiten einbringt, gut findet, sollte man vielleicht zu der Frage dieser älteren Formen etwas allgemeiner Stellung nehmen. Ich habe schon vor längerer Zeit – drei Jahre ist es her, glaube ich – als Gast an einer PEN- Tagung in Ingolstadt teilgenommen, auf der es um die moderne Lyrik ging. Eine ganze Reihe von Autoren lasen Gedichte, vor allem solche, die sie selbst als nicht abgeschlossen betrachteten und zu denen sie sich Kritik und Hilfestellung erwarteten. Die anwesenden Kollegen, Kritiker und Lektoren waren gebeten, sich in aller Offenheit zu den Arbeiten zu äußern. Es dominierten die Prosagedichte, also Lyrik, die den Charakter eines Prosatextes hat, aber in Verszeilen niedergeschrieben und (auch nicht immer) vorgetragen wird. Dann las jemand ein Gedicht in deutlich akzentuierten freien Rhythmen. Das machte großen Eindruck, und es war, glaube ich, Walter Jens, der in aller Bedächtigkeit zu bedenken gab, ob der Rhythmus denn nicht doch als tragendes, verstärkendes Element der lyrischen Aussage zu dienen geeignet sei?

Es wurde keine wirkliche Diskussion daraus, weil die Gegenseite nicht recht zu Worte kam. Deren Argumentation ist ja aber bekannt. Sie stützt sich im Grundsätzlichen auf Adorno und Lukacs, die in ihrer ästhetischen Theorie von einer engen Bindung des künstlerischen Ausdrucks an den gesellschaftlichen Stand, das gesellschaftliche Empfinden der Zeit ausgingen. Von diesem – wohl unbestreitbaren – Grundsatz, daß die Entwicklung der Künste an die gesellschaftliche Entwicklung gekoppelt ist, ausgehend, haben die meisten modernen Lyriker Reim und Rhythmus aufgegeben: die Zeit, in der wir leben, so wird argumentiert, ist eine, die sich dem zusammenhängenden Bild und dem zusammenklingenden Reim nicht mehr fügt. Wo einem nur noch die Fetzen individueller Erfahrung greifbar sind, ist der Reim und oft auch der Rhythmus unmöglich geworden. Diese Formen haben zuviel Idyllisierendes und im schlechten Sinne Harmonisierendes an sich. Wenn Zufall und Willkür herrschen, kann das Gedicht allein sich dem nicht entziehen.

Dies ist in seiner Grundlage ein Kernsatz der „nicht mehr schönen Künste“ und kaum zu bestreiten. Allerdings scheint mir die Frage bedenkenswert, ob Rhythmus und Reim wirklich in jedem Fall harmonisierend wirken müssen. Immerhin ist eine so verzweifelte lyrische Klage wie T. S. Eliots Waste Land in freie Rhythmen gefaßt.

Ich will Eliot nun keineswegs zum lyrischen Vorbild erheben, aber ist es nicht vorstellbar, daß solche Mittel sprachlicher Gestaltung wie freie Rhythmen und auch der selektive Einsatz des Reims dem Empfinden moderner Lyriker entsprechen können? Daß sie, wenn man sich von dem Gedanken befreit, sie „idyllisierten“ notwendigerweise, dem Gedicht neue sprachliche Dimensionen erschließen könnten?

Mir scheint, daß dies bei Gerrit Bekker so ist. Und er ist ja auch nicht der einzige unter den jüngeren Lyrikern, der mit rhythmischen Formen und dem Reim umgeht. Vielleicht wäre dies ein Weg, der aus der beklagten „Beliebigkeit“ hinausführt. Es gibt in Wachsflügeis Furcht ein Gedicht, das Eliot gewidmet ist (wobei ich nicht glaube, daß Eliot für Gerrit Bekker ein Vorbild ist, eher so etwas wie ein Markstein in der lyrischen Landschaft) :

Es war ein König in Thule
zu der Zeit
da das Land Wasser begehrte.
Begehrte und nicht bekam –
Begehrte und nicht bekam –

Derweil fiel Licht
durch fast Blindes.
Ein wenig Sand
aus einer fernen Wüste
klirrte gegen –
eine Scheibe aus Eis.

„Ein wenig Sand aus einer fernen Wüste“ – das ist eher Erinnerung an Eliots Waste Land als ein greifbarer Einfluß. Das Gedicht in Wachsflügels Furcht, das Eliots existentieller Verzweiflung am nächsten kommt, ist das selbstmörderische Eternal spring. Darin wird das englische Wort für Frühling, spring, ausgespielt gegen den Verzweiflungssprung von einem hohen Balkon:

Derweil steckt sich
das Bajonett in Bäuche wahllos
merk es kaum
spielt Handrow Januch doch
auf dem Fagott.
Gleich trete ich
auf das Gesims
um kühles Selter nehmen –
Straße klein
von oben sehn
und dann –
dann nehm ich Anlauf –
spring

Nochmals Eliot ähnlich gibt es bei Bekker eine religiöse Sehnsucht. Sie wirkt als Gegengewicht zu der Verzweiflung, die aus vielen der Gedichte spricht. Bemerkenswert finde ich die Offenheit, mit der das ausgedrückt ist. Er meint es ernst und versteckt sich nicht. Man muß aber die Konjunktive in diesem Gedicht beachten:

Käme dereinst
Herr – unser
lachten die Kinder
und wollten nicht von Harfe lassen.
Träfe uns wißbar
Liebe Dein –
so wollten wir auch
aus der Verstörung geführt
Immer preisen
und preisen

Das Preisen als eigentlicher Ruf der Lyrik und die Trauer darüber, Ankläger sein zu müssen, „Schimpfer“ – das führt das Gedicht Stammverwandt thematisch voller aus. Für Gerrit Bekker typisch sind die Leichtigkeit und der Humor des ersten Teils und das unvermittelte Umlenken in den Ernst des zweiten Teils, in die Klage über den eigenen Zynismus:

Der Regen macht zum Tunichgut.
Was heißt hier Freiheit
auf dem flachen Land?
Hier soll der Wind erklären –
Abtrag schaffen von der dicken Haut,
daß ich es wieder spüren kann –
verdammt ich lebe nicht allein.
Ach Vaterherr, versiehst es
Knechtseinwoller, zum Sänger geboren,
zum Schimpfer gediehn
mit der Drohung
ans eigene Dach.

Es ist etwas zutiefst Überzeugendes in der Klage, die aus der Trauer über das zerstörte „Ich“ kommt; viel zentraler erscheint mir das als die soziale Anklage, als der beredte Verweis auf die Umstände. Das „Ich“ hat sich gebeugt, hat seine Naivität verloren, das ist der eigentliche Bruch mit dem „richtigen“ Sein:

Ich könnte anders sein –
ganz andres Sein,
ganz Altverstand –
die Biegung sanfter Straße,
die sich in Länge
zu den Hügeln streckt.

Es gibt, glaube ich, neben Eliot einen zweiten Markstein in Bekkers Arbeit. Das ist Klaus Groth. In der lyrischen Erzählung Petersens Meerfahrt, die Bekker im August veröffentlichen wird, findet sich ein kleines, witziges Porträt von Klaus Groth, in dem er als ein zugleich naiver und entschlossener Mann dargestellt wird, als energisch und sensibel. Groth hat viel plattdeutsch geschrieben, darunter auch Gedichte für Kinder. För de Görns heißt ein solcher Band. In Wachsflügeis Furcht hat Bekker eine Reihe von Gedichten aufgenommen, die einer kindlichen Wahrnehmungsweise nahekommen oder aber für Kinder geschrieben sind. Sie wirken in ihrer entschlossenen Naivität im Zusammenhang von Wachsflügels Furcht verblüffend, aber wenn man bedenkt, daß das zentrale Thema des Bandes eben der Verlust der Naivität ist, fallen sie an ihren Platz.

Ein Gedicht dieser Art, das ich sehr mag, hat den Titel Mit Frieda und erzählt von einer Tante Hanna aus Waltershof in Hamburg, die die Kinder öfter mal zu einer Ausflugsfahrt die Elbe hinunter mitnahm. Frieda war (ist vielleicht noch) der Name eines Ausflugsdampfers.

Och Tante Hanna –
lot mi doch –
ik wear so gean
bi di in Waltershoff
Den ausgestopften Fuchs zu sehn den
Papagei,
den Kürbiskernefresser,
der wenn ich aufsah
ihn zu fragen,
– nur – Lora – kennt.
Wenn ich auf deinen Knien saß,
nahmst du
das bretterzäun’ge Ende meiner Welt
und sagtest: Hundehimmel.
Daß Gütegott
die Wesen liebt,
die er erschafft
zu aller Tageszeitund
Waltershoff sei nicht Amerika.
Auf halber Strecke –
die Alte Liebe würd uns bringen –
da läg Cuxhafen,
wo die Eibe lange salzig schmeckt
und Hamburg,
sagtest du
das sei das Tor der Welt
und vor der Elbe
braucht‘ man keine Furcht zu haben,
nur ungezogene Kinder schwämmen weit,
daß sie der Strudel packt
und ihnen nasses Grab bereitet.
Och – Tante Hanna
lot mi doch
ik wear so gean bi di in Waltershoff,
dat du mi noch von Helgoland fatells
und warum da der Tommy wütet
un ok wie grat denn Dütschland is –
und Washinton – Allee –
wat dat bedüden schull.
Man Tante Hanna lot mi doch.
– Ik wär so gean –

Der naive Ton, der hier der Erinnerung dient, verbindet sich an anderer Stelle mit der Klage um die Zerstörung der Natur, die zugleich ja auch kindlichen Symbolen – wie dem Storch – ein Ende zu machen droht. „Der Storch, mal anders“:

Ach käm der Storch doch alle Jahre wieder
dann fänden auch der kleinen Kinder Lieder
noch Hoffnungssang ins Obermorgen.

Oder dieses Gedicht mit dem Titel „Abzählvers“:

Du Adebar,
komm doch heraus aus Schilfversteck.
Du Adebar, komm doch heraus
aus diesem grünen Tümpel.
Das ist nicht mehr, was es gewesen ist.
Du Adebar – das ist nicht mehr
das war
ein Weiher.

Entschlossen ist auch die Art, in der Bekker mit der Sprache umgeht, um sie nach seiner rhythmischen Anforderung oder seiner bildlichen Phantasie (er ist Maler) zu formen. „Vaterherr“ und „Knechtseinwoller“, „Immerwogetanz“ und „Eigendunkel“ sind akrobatische Fügungen, die aber im Rahmen des Gedichts fast immer gelingen. Hier der „Immerwogetanz“:

Vom Land gelassen –
das Meer im Immerwogetanz
schlägt mir das Feuchte,
Gischt erlahmt als Träne,
ins Gesicht

Die Unbedenklichkeit dieser Sprache kommt ganz aus dem Vorrang, den Bekker Rhythmus und Klang einräumt. Unbeendete Sätze, starke Verkürzungen, Weglassen des Reflexivpronomens:

und was am Morgen
Tau nennt,
weint –
weil es schon wieder ist

Ein schönes Beispiel für die Aneinanderreihung halsbrecherischer Satzkonstruktionen ist ein Gedicht aus dem „Seefahrts“-Zyklus in Wachsflügels Furcht. „Nordnordost“:

Wer kann schon sagen,
was einer gelernt,
wenn armdick
die Aste der Sturm brach.
Manche Glocke schlug
an solchen Tagen,
gerechter Not anzeigen,
als den Stand der Stunde herzusagen
und in den Wellentälern
hielt die Möwe sich,
denn auch das Meer
kennt seine Schatten auszugeben.

Diese Unbedenklichkeit (früher hätte man wohl Kühnheit gesagt) wirkt auf mich befreiend, erleichternd. Vieles in den Gedichten der Alten war nur aufgrund heute altertümelnd wirkender Umstellungen und Inversionen in einen stimmigen Rhythmus zu bringen. Vielleicht sind die radikalen Verkürzungen und geradezu gewalttätigen Zusammenfügungen einiger jüngerer Autoren heute die moderne Entsprechung.

Es zeigt sich nämlich bei Gedichten wie Nordnordost, daß der rhythmische und klangliche Zusammenhang den Sinn stützt, der Aussage über die vielen Brüche und Andeutungen hinweghilft. Diese Bemühungen in der Lyrik empfinde ich jedenfalls als einen längst fälligen Beitrag zur Befreiung unserer armen, von Akademikern bewachten Sprache.

Zur Zusammenfügung, Verkürzung, dem Verzicht auf grammatische Stimmigkeit tritt die Klangassoziation. Häufig läßt sich Gerrit Bekker von Anklängen und Ähnlichkeiten leiten, geht von einer Art unterschwelliger Verwandtschaft gleichlautender Wörter aus. Hier ist der letzte Teil eines Gedichts mit dem Titel „Beim letzten Ton des Zeitzeichens – ist es genau“:

Es wird sich schon noch weiter stellen
wie es die ganze Zeit gestellt
ich höre Hunde Antwortbellen
es bellt der Hund von dieser Welt
wie: ring the bell –
die Uhr soll es uns sagen …

Ähnlich assoziativ angelegt ist das Gedicht Schimmelreiter. Der Schimmelreiter ist ja in der Novelle von Storm (auch ein Landsmann von Bekker) eine Geistererscheinung: der alte Deichgraf, der auf galoppierendem Schimmel immer dann auf den Deichen auftaucht, wenn eine schwere Springflut die Köge bedroht. Bei Bekker ist dieser Spuk verwandelt in ein Geisterschiff – ein Kriegsschiff aus dem letzten Krieg. Es erscheint einem Segler in einem Alptraum vor dem Wecken. Das „Anwecken der Geschütze“ und der „Weckerschrei“ gehören ebenso zusammen wie das Drehen der Geschütze und das Umdrehen im Schlaf, das beides in einem Satz ausgedrückt wird, der sowohl dem Geschützturm gelten kann als auch dem Schläfer. Die Verbindung zum Schimmelreiter wird noch einmal betont in dem „schaumbedeckten Roß“, als das das Kriegsschiff mit der fliegenden Gischt am Bug erscheint:

und graue schnelle Schiffe
ziehn vorbei wie
schaumbedecktes Roß
vom langen Suchen
Feinde aufzudecken
am Turm Geschütze
anzuwecken
wenn sich noch einer drehen mag
um fünf vor vier
vorm Weckerschrei –
zieht doch das Segel ein
es ist v.orbei
laß es vorbei –
aufs weiße Kliff.

WachsflügeI, das ist der Ikarus, der sich vor der Nähe des Meeres ebenso hüten muß wie vor der Nähe der Sonne. Die Furcht vor dem Sturz muß man bei Bekker wohl vor allem übersetzen in die Furcht vor dem Verlust der Unbeschwertheit, der Naivität. Er ist ein Mann, für den die lyrische Äußerung in Aussage und Form Teil einer Lebenshaltung ist. Diese Identität ist in der selbstgewählten Zurückhaltung leichter durchzuhalten als in der Öffentlichkeit, in die er durch die Publikation seiner Gedichte und einer Erzählung nun eintritt. Es ist ja eine Ironie des Literaturbetriebes, daß er immer das auch gefährdet, was er verbreitet.

Gerrit Bekker: „dichter“

Ich bin das Kind
das aus dem Nest der Krähe stürzte –
wie Woge stürzte
ich
an einem Tag
mit schüchtern Arrr!
den Schnabel weitgerissen,
als ließe sich’s Verderben
beißen.
Ich bin der Vogel, schwarze –
damals aus dem Nest
und meine Flügel brachen nicht für immer.
Hier bin ich aufgestanden,
an einer Mauerkante
bösen Buben auf das Bett
und auf die Hand zu sehn.
Bin zu verstehn.-
Ich sitze Tag und Nacht an deinem Hause!
Mit den Gesellen auf den Feldern
vertrete ich den nächsten Tag.
Da wird der Nebel kommen weiß –
der unser Meister ist –
der uns bewegt –
den wir bewegen dürfen. –
Der Nebel, der dann Meister heißt.